Irgendwann ist die Hebamme nicht mehr schuld…
Meine Mutter legte sich am Nachmittag gerne etwas hin, um einen Mittagsschlaf zu machen. Weil sie so schön entspannen konnte, wenn ich meine Hausaufgaben machte, tat sie dies in meinem Zimmer. Das Kratzen des Stiftes auf dem Papier beruhigte sie. Komplettiert wurde die Entspannung durch das Anhören von Kassetten (5 Freunde, Momo, die unendliche Geschichte). Meine Aufgabe war es, meine Hausaufgaben zu machen und rechtzeitig vor dem Ende der Kassette schnell aufzuspringen, um das Klacken aufhalten zu können, was Kassetten am Ende ihrer Abspielzeit zu machen pflegen. Das war sehr wichtig, denn sonst hing der Haussegen schief. Die Entspannung war dahin, denn das Klacken erschreckte meine Mutter so sehr, dass sie Herzprobleme bekam, was ich verhindern konnte, wenn ich schnell und aufmerksam genug war. Gelang mir das nicht, wurde sie sehr böse und war enttäuscht von mir. Überhaupt war ich nur dann keine Enttäuschung, wenn ich mich konform verhielt. Irgendwie fühle ich mich heute in meine Kindheit zurückversetzt.
Brav und angepasst
Ein liebes Kind, welches sich an die Regeln hält, kann auf
Zuneigung hoffen. Ein böses Kind, welches Regeln hinterfragt und diese
womöglich auch noch bricht, nicht. Ganz einfach.
Und die eigene Mutter hat eine gewisse Zeit immer Recht, einfach, weil sie die
Mutter ist. Und Zuneigung braucht man auch, also ist es klar, wie man sich
verhält. Bis man zu hinterfragen beginnt. Dann wird es anstrengend und
ungemütlich.
Schlüsselerlebnis
Ich kann mich noch gut an einen Tag erinnern, als ich wieder alles falsch zu machen schien. Jedes Wort von mir war zu viel, jedes Verhalten verkehrt. Meine Handlungsmöglichkeiten waren sehr begrenzt und irgendwie war ich sauer, weil ich so gar keine Lobby hatte. Also beschloss ich, den Spieß umzudrehen, in der irrsinnigen Annahme, diese verquere Situation so beleuchten zu können, dass klar werden würde, dass es so nicht okay wäre.
Anstatt innerlich und äußerlich zu „verhandeln“, legte ich den Schalter komplett um und lief meiner Mutter wie ein Schoßhündchen hinterher. Den ganzen Tag. Alle 5 Minuten fragte ich, ob ich ihr etwas Gutes tun könne, was sie brauchen würde, was sie von mir verlangte. Dann tat ich es. Brav, still, leise und angepasst. Obwohl ich noch ein Kind war, dachte ich, dass es jetzt doch auffallen müsste, dass ein Kind keine programmierbare Maschine wäre, die man an- und abstellen könne, wie es einem gerade beliebte.
Ich hoffte auf Erkenntnis. Diese kam auch, allerdings mehr für mich.
Am Abend bat mich meine Mutter zu sich und sagte mir, dass sie heute mal sehr zufrieden mit mir gewesen war. Heute wäre ich endlich mal ein braves Kind gewesen, so würde sie sich das immer vorstellen. Ein solches Kind könne man liebhaben. Ihre Hoffnung wäre nun, dass mein heutiges Verhalten anhalten würde.
Reifung
Ich war damals noch ziemlich klein. Da sich das Ganze in
meinem alten Kinderzimmer abspielte, muss ich zwischen 8 und 13 gewesen sein.
Später war mein Zimmer im Obergeschoss.
Obwohl ich diese Begebenheit nie vergessen habe, hat es doch gedauert, bis ich
29 war, um den Mut zu finden, dauerhaft „Nein“ zu sagen. Der Rest ist
Geschichte.
Glaubenssätze
Obwohl ich weiß, dass jeder Mensch Anstand, Respekt und Zuneigung verdient, bis er sie mutwillig verspielt, gilt dies immer nur für die Anderen. Nicht für mich.
Also verhalte ich mich in den meisten Fällen korrekt. Superkorrekt. Versuche alles richtig zu machen, breche keine Regeln und hoffe darauf, dass ich dann nichts Schlimmes zu befürchten habe und nicht bestraft werde, denn ich habe doch alles richtig gemacht.
Das Leben ist allerdings weder ein Geschäft, noch berechenbar. Auch damit habe ich als erwachsene Frau durchaus gelernt, umzugehen.
Wenn man nur verlieren kann, dann kann man auch gewinnen
Seit fast 2 Jahren versuche ich nun (wieder), sich ständig ändernde Regeln zu befolgen, umzusetzen, mir keinen Fehler zu erlauben. Es durchfährt mich, wenn ich am Freitagabend um 22:00 Uhr am Automaten der Bank Kontoauszüge hole und feststelle, dass ich meine Maske nicht aufgesetzt habe. Ja, so bescheuert bin ich.
Von „leicht“ hat keiner gesprochen
Im Leben wird einem nichts geschenkt und man muss sich schon
ein bisschen anstrengen. Aber selbst als angepasstes Kind gab es für mich
Grenzen. Die Grenze meines eigenen Körpers. Diese habe ich bis heute aufrechterhalten.
Und je unsinniger die Regeln werden, je mehr Hass und Häme einem entgegenschlagen,
je unmöglicher es wird, sich korrekt zu verhalten, umso mehr fühle ich mich an
mein „Schlüsselerlebnis“ erinnert.
Und heute ist die Hebamme nicht mehr schuld
Meine Freiheit liegt in meinem Kopf. Ich bin duldsam. Ich gehe mit. Ich will ein braves Kind sein. Doch nun bin ich so oft belogen und betrogen worden, so oft zu dem Schluss gekommen, dass ich sowieso nicht alles richtig machen kann, dass ich sowieso ein Störer bin und unsozial, dass ich eine Gefahr für andere darstelle, dass ich nicht wieder 29 Jahre warten werde, bis ich „Nein“ sage.
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