Dünnhäutige Widerstandsfähigkeit

 


Es ist Freitag. Freitag wird die Buchhaltung gemacht. Jeden Freitag. Man ist eine brave Bürgerin. Es kam schon häufiger vor, dass ich keine Lust hatte, Zahlen in Programme einzutippen. Heute, Ende Februar 2022, erscheint es mir vollkommen falsch.

Ein paar hundert Kilometer von hier sterben Menschen. Im Krieg.

 

Unfassbar. Ich konnte es als Kind nicht verstehen und ich verstehe es heute nicht. Warum macht man so etwas? Politisch kann und will ich mich dazu nicht äußern, denn ich weiß zu wenig. Aber eines fühle ich: Krieg ist falsch. Krieg ist Leid. Krieg ist Grausamkeit. Krieg ist Folter. Krieg ist Schande. Krieg ist ein Verbrechen. Krieg bringt Leid. Krieg tötet. Krieg vernichtet. Krieg ist herzlos. Krieg ist falsch.

 

Kein Argument dafür

Bestimmt könnte mir jemand erklären, warum Krieg hier „notwendig“ wäre oder wie es genau dazu gekommen ist. Für mich ist Krieg nicht zu rechtfertigen. Durch nichts und niemanden.

 

Ich möchte gerne jemanden an meiner Seite, der mir sagt: „Mach‘ dir keine Sorgen!“ – „Alles wird gut.“ – „Nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird.“ – „Lass‘ dich nicht stressen.“ – „Mach‘ dir nicht so viele Gedanken.“

 

Und ich bin froh, dass es im Moment so eine Person nicht gibt, denn sie würde nur als Katalysator der Angst, der Wut, des Unverständnisses und der tiefen Traurigkeit dienen. Sie wäre die Person, die meine Ohnmacht, meine Fassungslosigkeit abbekommen würde. Wahrscheinlich würden diese wohlgemeinten Worte die Schleusen öffnen und den Tränen freien Lauf lassen. Vielleicht würde ich auch wütend werden, vielleicht sogar aggressiv? Ich weiß es nicht.

Schaden an der Seele

In den letzten 2 Jahren habe ich, wie alle Menschen, viel Kraft gebraucht. Ich habe mich als emotionalen Tagelöhner bezeichnet. Ein Mensch, der den Tag durchsteht. Einen Tag nach dem anderen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Planungssicherheit, Vertrauen in die Zukunft, der Glaube an das Gute und an sich selbst – all das versickerte im Treibsand.

Das Fass ohne Boden konnte man nur auf diesen Treibsand stellen. Der morgendliche Blick in das Fass, welches man erst suchen musste, offenbarte, was man schon wusste: Das Fass ist noch da, der Boden immer noch nicht. Das Fass ist leer.

Bis heute Abend durchhalten. Morgen ist auch noch ein Tag.

 

Ohnmacht, Hilflosigkeit, Empathie

Ich erlebte 5 Suizide von Kollegen und Kolleginnen. Freundschaften zerbrachen. Anfeindungen nahmen zu, so auch das Unverständnis. Weil ich nicht verstehen konnte, habe ich versucht, Antworten zu bekommen, die Verständnis zulassen. Fehlanzeige.

Vieles, was als unumstößlich galt, vieles, von dem ich glaubte, es könne nicht (mehr) passieren, geschah und geschieht immer noch. Die Logik hat Urlaub, oder ist dem Burn-Out erlegen.

 

Kategorischer Imperativ

Ich habe mich ein Leben lang geweigert zu glauben, dass Menschen böse sind. Menschen werden in Ecken gedrängt, Menschen werden der guten Möglichkeiten beraubt und weichen auf schlechte Lösungen aus. Aber eigentlich liegt das nicht in der Natur der Menschen. Das wollte ich glauben.

 

„Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“

Immanuel Kant

 

Oder eben einfach: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst, tue anderen nichts an, was Du für dich auch nicht möchtest.

 

Ich möchte nicht, dass jemand über meinen Körper entscheidet. Ich möchte nicht unter Druck gesetzt werden. Ich möchte nicht zum Sündenbock erklärt werden, wenn ich keinerlei Sünde begangen habe. Ich möchte nicht als Wurmfortsatz der Gesellschaft bezeichnet werden. Ich möchte nicht angelogen und betrogen werden. Es geschieht.

 

Für seine Meinung einstehen

Und ich habe meine Stimme erhoben. Sinnlos. Nutzlos. Erfolglos.
Ich habe mich an alle Regeln gehalten, auch wenn ich diese nicht verstanden habe. Ich habe mich durch die Tage gekämpft und eine Entscheidung getroffen. Ich habe mein persönliches Risiko abgewogen und kein Risiko für andere dargestellt. Ich habe gewusst, dass es mich treffen kann. Bevor mich allerdings die Krankheit erwischte, sah ich mich mit vielen anderen Dingen konfrontiert.

 

Drohungen durch die Blume

Um meine Gedanken zu sortieren und um sie für „später“ zu konservieren, begann ich diese aufzuschreiben. Ich habe Briefe geschrieben und meine Meinung kundgetan.

Im Zuge dessen hat man mir verschiedene Schuhe hingestellt und die unterschiedlichsten Etiketten aufgepresst: Ich erhielt Zuspruch, wurde als Widerstandskämpferin und Friedensaktivistin bezeichnet.
Aber ich erhielt auch Anrufe besorgter Mitbürger und Mitbürgerinnen, die mir rieten, mich lieber still zu verhalten. Ich wäre „googlebar“ und man könne viel über mich herausfinden. Wohnort, Telefonnummer, Studioadresse und vieles mehr. Es wäre vielleicht besser, sich zurückzuziehen.

Erst hörte ich diesen Gesprächen zu, später blockierte ich die Nummern. Als dann versucht wurde, in unserem Studio einzubrechen, habe ich natürlich kurz daran gedacht, ob das nun die Quittung ist, die ich zu zahlen bereit sein muss?

 

Der gute Mensch

Es gab auch viele Menschen, die mich genau da zu packen versuchten, wo ich leicht zu greifen bin. Sie appellierten an meine Empathie, mein Mitgefühl, meine Hilfsbereitschaft. Ob ich Ihnen nicht einen oder mehrere Briefe schreiben könne, ob ich nicht für Sie bei Behörden vorsprechen könne, ob ich nicht bereit wäre, mit Ihnen gegen den Rest der Welt vorzugehen, ob ich Ihnen nicht zur Seite stehen könne, ob sie sich nicht regelmäßig mit mir treffen könnten.

Natürlich sollte ich diese Leistungen aus reiner Nächstenliebe erbringen.

 

Nahm ich mir die Freiheit heraus, hier erklären zu wollen, dass ich das weder könne noch wolle, dass es aber unter Umständen die Möglichkeit geben würde, meine Dienstleistungen (Coaching, Ghostwriting etc.) im geschäftlichen Rahmen als Kunde zu nutzen, wurde ich beleidigt.

 

Teilweise waren die Kontaktaufnahmen so seltsam, dass ich gar nichts mehr verstand.

Im Coaching hätte ich bei solchen Menschen immer gesagt, dass es meine Kompetenz überschreiten würde, wenn ich hier eine Beratung anböte, denn die Personen zeigten sich fernab jeglicher Normalpathologie. Der Redefluss war schnell, ging ohne Punkt und Komma vonstatten. Bedeutungserleben. 1000 Themen in 3 Sätzen. Es war kein normales Gespräch mehr möglich.

 

Da muss man doch krank werden

Und so kam es dann auch. Es war zu erwarten, dass es mich irgendwann erwischt. Es hat die ganze Familie erwischt. Damit habe ich gerechnet. Schön, ist was anderes, aber welche Krankheit ist schon schön?

Man wird krank, man nimmt sich aus dem Geschehen raus, man schläft, man versucht, gesund zu werden. Man trinkt Tee. Man senkt Fieber.

Gut. Geht.

 

Treibsand im Kopf

Absolut neu war der Treibsand im Kopf. Als das Fieber schon weg und der Schnupfen am Abklingen war, war der Kopf noch funktionslos.

Ein normales Symptom, habe ich mir sagen lassen. Creepy. Ein Kater ohne Kater und wieder das Gefühl, sich beständig im Treibsand zu bewegen.

 

Nur dass es jetzt die Gedanken waren, die einem entglitten, noch bevor man sie zu Ende gedacht hatte. Das Gefühl, dass einen das eigene Gehirn im Stich lässt. Jeder Satz, den man aussprach, war spannend: Werde ich am Ende wissen, was ich eigentlich sagen wollte? Werde ich die richtigen Worte finden? Es ist ein bisschen so, wie wenn man etwas sucht, von dem man weiß, dass es da ist, es aber einfach nicht findet.

Es wird besser, oder ich glaube es zumindest.

 

Alles nichts, im Vergleich zu dem, was gerade passiert

Aber was sind diese Erfahrungen schon im Vergleich zu dem, was nun mit den Menschen passiert. Menschen, die Kriegsopfer werden?

Diese Menschen haben keine Wahl. Unschuldige Menschen, Zivilisten (m, w, d), Kinder, Familien.
Und auch diese Menschen sind die letzten 2 Jahre durch eine Pandemie gegangen und in Maßnahmen getrieben worden. Und nun noch das?


Wenn ich das Gefühl habe, dass meine Kraft nicht mehr ausreicht, wie muss es diesen Menschen gehen?
Ich schäme mich meiner mangelnden Frustrationstoleranz und eruiere die Reste meiner Resilienz, während Menschen im Krieg alles verlieren. Ich kann nicht abschalten, ich kann es nicht verstehen, es zerreißt mich.

 

Resilienz

Mittlerweile ist es ein Modewort. Jede Person, die es ohne den ebenso modern gewordenen Burn-Out durch den Alltag schafft, ist resilient. Resilienz beschreibt die Fähigkeit, Extremsituationen durchzustehen, ohne seelischen Schaden zu erleiden (https://www.psychologie-heute.de/leben/artikel-detailansicht/38838-resilienz-laesst-sich-lernen.html).

Was mich betrifft:
Setzen. 6.
Durchgefallen.

 

Die Zutaten der Resilienz

Die Fähigkeit, Extremsituationen schadlos durchzustehen, wird durch mehrere Faktoren bedingt.

Resilienz setzt sich aus

·      Selbstbewusstsein,

·      Kontaktfreude,

·      Gefühlsstabilität,

·      Optimismus,

·      Handlungskontrolle,

·      Realismus

·      und Analysestärke zusammen.

 

Ich bin mir meiner Selbst bewusst, ob ich mir auch noch selbst vertraue, das bezweifle ich mittlerweile. Freude an Kontakten sollte man nicht mehr haben, das wurde uns in den letzten 2 Jahren eingetrichtert. Kontakte sind gefährlich und zu vermeiden. 

Stabile Gefühle? Hm. Ja höchstens das Gefühl, nach Strich und Faden vergackeiert zu werden, das ist relativ stabil.
Optimismus und Handlungskontrolle? Guter Witz.

Realismus? Ja, es ist noch schlimmer, als man dachte. Jetzt ist auch noch Krieg.

Analysestärke? Welche Stärke? Welche Analyse?

 

Bestandsaufnahme persönliche Resilienz

Ich habe keinen objektiv nachvollziehbaren und vernünftigen Grund, nicht resilient zu sein. Vor allem im Vergleich zu den Menschen, die exakt das Gleiche durchgemacht haben und jetzt zu Kriegsopfern werden. Was tut man diesen Menschen an? Wie sollen diese Menschen stabil bleiben, für ihre Kinder da sein, leben, überleben?

Dennoch entgleitet mir alles, ich schwimme und versinke.

 

Der resiliente Mensch

Auf meiner Suche nach den Erkenntnissen über Resilienz, stieß ich auf den Neurowissenschaftler Raffael Kalisch. Kalisch leitet das Mainzer Resilienzprojekt, eine Langzeitstudie des Deutschen Resilienz-Zentrums. Oben habe ich den Artikel aus „Psychologie heute“ aus dem Jahr 2017 verlinkt. Mich würde interessieren, was Kalisch zur Resilienz in Pandemie-Zeiten heute zu sagen hätte. Vielleicht frage ich ihn?

 

In dem oben erwähnten Langzeitprojekt begleiten die Forscher junge Menschen viele Jahre.

Sie betrachten deren Schulzeit, ihre Ausbildung, die Berufswahl, die damit verbundenen psychischen Belastungen und die Reaktionen darauf.

 

Kalisch trug die Erkenntnisse im Buch „Der resiliente Mensch“ zusammen. Ich werde es mir beschaffen.

(Raffael Kalisch: Der resiliente Mensch. Wie wir Krisen erleben und bewältigen. Berlin Verlag, Berlin 2017, 236 S., €22,– )

 

Kalisch stellt die fast schon ketzerisch anmutende Frage, was die Resilienzforschung eigentlich bewirken soll. Ein Drittel der europäischen Bevölkerung litt bereits 2017 an stressbedingten psychischen Erkrankungen. Was also sollte man tun? Den Stress reduzieren, oder die Menschen widerstandsfähiger machen? Nun, da Ersteres nicht funktioniert hat, kann man sich nur noch auf die 2. Möglichkeit konzentrieren.

 

Und wenn die Menschen dann (noch) besser mit Extremsituationen zurechtkommen, dann muss man auch kein schlechtes Gewissen haben, wenn man einen Krieg anzettelt? So ist das sicherlich nicht gemeint. Hoffe ich zumindest.
Resilienz ist heute wichtiger denn je. Niemand hat behauptet, dass es einfach ist, resilient zu sein und zu bleiben, aber leider hat auch niemand gesagt, dass es so schwer werden würde.

 

Resilienz ist Aktivität

Widerstandsfähig bleibt die Person, die das Gefühl hat, dass sie doch noch etwas bewirken kann. Wird die seelische Widerstandsfähigkeit auf das Fundament der Hoffnung und des Glaubens gebaut? Die abgeklärten Optimisten kommen stark durch die Krisen, nicht die hoffnungslosen (Optimisten).

 

Lernprozess

Kalisch macht Mut. Resilienz kann man lernen. Der Lernprozess dauert lang und benötigt viel Zeit und Aufmerksamkeit. Im Moment habe ich das Gefühl, dass die Lernbedingungen sich allerdings eher verschlechtern als verbessern. Jetzt muss man Resilienz lernen. Nie waren die Bedingungen so schlecht dafür.

 

Am Ende dieses langen Beitrags habe ich zumindest das Gefühl, etwas getan zu haben und mich wieder etwas mehr auf mein Hirn verlassen zu können. Vielleicht sollte das für den Anfang reichen?
Und dann denke ich wieder an den Krieg. Wie soll man sich da nicht unterkriegen lassen?

 

Dieser Beitrag erscheint am 05.03.2022 auch im Rubikon

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