Die Spitze des Eisbergs? Für das Volk aber wider der Bedürfnishierarchie

 

Kaum jemand, der sich nicht schon mindestens einmal mit der Maslowschen Bedürfnispyramide auseinandergesetzt hat, gehört diese doch zum Stoff fast jedes Biologie-Unterrichts (Ja, ich habe es tatsächlich im Bio-Unterricht gehabt, und in Sozialkunde und in Religion und später nochmals im Bio-LK). Insofern ist es kaum verwunderlich, wenn man zunächst die Mundwinkel zum Ansatz eines Gähnens verziehen möchte. Ich möchte gerne, dass aus dem Gähnen ein „Aha-Effekt“ wird, wenn wir uns gemeinsam betrachten, wie die Politik seit knapp 2 Jahren die Bedürfnisse „ihrer“ Bürger und Bürgerinnen mit Füßen tritt.

 

Hintergrund

Abraham Maslow, auch bekannt als einer der wichtigsten Gründerväter der humanistischen Psychologie, lebte von 1908 bis 1970. In der nach ihm benannten Pyramide beschreibt er auf vereinfachte Weise die menschlichen Bedürfnisse und Motivationen. Die humanistische Psychologie sieht das Streben nach seelischer Gesundheit als elementar an. So war der Blick auf die menschlichen Bedürfnisse auch für die Sozialwissenschaften, die Theologie und die Philosophie von Bedeutung.

Maslow lehnte die eher negativen Betrachtungen der Psychoanalyse und des Behaviorismus ab, welche von einem defizitären Menschenbild ausgingen. Er selbst ging davon aus, dass der Mensch grundsätzlich gut sei und sich zum Guten hin entwickeln wolle, dabei wäre die Selbstverwirklichung sein höchstes Ziel (oberste Stufe der Pyramide).

Negative Verhaltensweisen wie Destruktivität, Grausamkeit und Sadismus seien seiner Ansicht nach Reaktionen auf die (fortwährende) Enttäuschung, auf den Deprivationszustand, der durch die Nichterfüllung der Bedürfnisse ausgelöst werden würde.

 



Bedürfnisse existieren nebeneinander

 

Die Darstellung als Pyramide ist dabei ein wenig missverständlich, da so der Eindruck entsteht, dass ein neues Bedürfnis erst dann auftritt, wenn das darunterliegende Bedürfnis befriedigt wurde. Tatsächlich existieren die Bedürfnisse nebeneinander und gehen fließend ineinander über.

 

„Bisher hat unsere theoretische Diskussion möglicherweise den Eindruck erweckt, dass diese fünf Sätze von Bedürfnissen irgendwie in einer sukzessiven Alle-oder-keine-Beziehung zueinanderstehen. Wir haben es so formuliert: ‚Wenn ein Bedürfnis erfüllt ist, so entsteht ein anderes.‘ Diese Aussage könnte den falschen Eindruck schaffen, dass ein Bedürfnis zu 100 Prozent erfüllt sein muss, bevor das nächste entsteht.“

– Abraham Maslow: A Theory of Human Motivation, 1943, S. 388–389

 

Die statische Sicht auf die Bedürfnisse, die durch die Pyramidendarstellung entstehen könnte, war nicht Intention Maslows.

 

Luft zum Atmen

 

Einige Bedürfnisse (physiologische) sind wichtiger als andere. Bevor ich mir überlege, welchen Kinofilm ich ansehen möchte, benötige ich zunächst einmal Luft zum Atmen, Wasser, Nahrung.

Zu den grundlegenden Bedürfnissen zählen also Essen, Trinken, Schlaf etc.
Danach möchte der Mensch diese körperliche Befriedigung und Sicherheit nicht gefährden, was durch die Bezeichnung „Sicherheitsbedürfnisse“ ausgedrückt wird.
Grund- und Existenzbedürfnisse, sowie das Bedürfnis nach Sicherheit und deren Befriedigung sind demnach essentiell, also lebensnotwendig.

Sicherheit

 

Zu den Sicherheitsbedürfnissen gehören körperliche und seelische Gesundheit, die materielle Grundsicherung, Arbeit, Wohnung und Familie.

Erlebt man hier Angst oder eine Bedrohung, wird ein essentielles Bedürfnis des Menschen nicht befriedigt. Er wird krank.

 

Bisher galten viele Gesellschaften dann als zivilisiert, wenn man sich relativ wenig Sorgen um die oben genannten Punkte machen musste. Unsicherheit des Lebens begegnen wir gerne mal mit Ablehnung neuer Dinge, verbleibenden Unsicherheiten versuchen wir eventuell mit der Sinnsuche in der Religion oder Spiritualität zu begegnen.

 

Auch der Wunsch des Menschen, am besten alles planen zu können, jedes Phänomen erklären zu wollen, Zusammenhänge aufzudecken, ist hier anzusiedeln. Lebt man in einer Zeit zunehmender Unsicherheit, so zeigt sich dies in der Suche nach starken Personen, von denen man abhängig werden kann.

 

Miteinander

 

Ist der Mensch gesättigt und fühlt sich sicher, möchte er sich mit anderen Menschen auseinandersetzen und sucht ihre Nähe. Beziehungen werden geknüpft, man möchte Anschluss zu anderen Menschen haben: Freundschaften, Liebesbeziehungen, familiäre Beziehungen, der soziale Austausch, das Erleben von Gemeinschaft, Liebe, Zuneigung, Kommunikation, Gruppenzugehörigkeit, einen Platz in einer sozialen Gruppe zu finden, ein Teil der Gesellschaft zu sein.

Fehlen Freunde, fehlt der Austausch, verliert man liebe Menschen, so sind dies alles schwere Einschnitte, die den Menschen kaputt machen.

 

Ich bin ich

 

Das Gefühl, dass man Menschen vertrauen kann, dass andere Menschen der eigenen Person vertrauen, empfundene und entgegengebrachte Wertschätzung, Bestätigung von außen, Erfolg, Freiheit und Unabhängigkeit – diese Punkte gehören nach Maslow zu den Individualbedürfnissen.

Man möchte Teil der Gesellschaft sein, aber auch als wertvolles Einzelindividuum gesehen werden.

Mentale und körperliche Freiheit ist ebenfalls in der Kategorie der Individualbedürfnisse anzusiedeln.

Andere Bedürfnisse dieser Kategorie wiederum können nur im Austausch mit weiteren Personen befriedigt werden: Ansehen, Wertschätzung, Achtung, Prestige.

 

Warum bin ich hier?

 

Der Mensch ist neugierig. Was wohl noch so in mir steckt? Diese Frage wird im Menschen aufkeimen, wenn alle vorherigen Bedürfnisse befriedigt wurden. Nun will der Mensch sich selbst verwirklichen. Er möchte seine Talente und Potenziale erkennen und nutzen, seine Kreativität entfalten, sich und seine Persönlichkeit weiterentwickeln. Der Mensch möchte seinem Leben einen unverwechselbaren Sinn geben.

 

Die Punkte, die einen Menschen dazu bringen, von sich selbst zu behaupten, dass er sich selbst verwirklicht habe, sind dabei sehr unterschiedlich und können vom Wunsch, ein gutes Elternteil zu sein bis hin zur totalen Erleuchtung alles beinhalten.

 

Defizitbedürfnisse und Wachstumsbedürfnisse

 

Werden die Defizitbedürfnisse nicht befriedigt, so hat dies negative physische und psychische Folgen. Menschen können emotional verhungern, Menschen können seelisch Schaden erleiden, wenn man ihnen das wegnimmt, was sie brauchen.

Die Wachstumsbedürfnisse (Nutzung von Talenten, Entwicklung von Potenzialen und Selbstverwirklichung) treiben uns ein Leben lang an und können demnach nie wirklich auf Dauer gestillt werden. Als Motor der Entwicklung ist hier immer ein gewisser Hunger anzusehen.

Solange ein Bedürfnis nicht befriedigt ist, wird es uns zum Handeln aktivieren.

 

Kritik

 

Maslow wurde vorgeworfen, er wäre einseitig positiv. Sein Menschenbild wäre zu gut. Das würde nicht den Tatsachen entsprechen, denn die Bedürfnisse nach Macht, Dominanz und Gewalt ließen sich nicht negieren.

Der Begriff der Selbstverwirklichung wäre zu schwammig und sehr kulturabhängig, also wenig messbar. Weiter sei es fraglich, ob die Rangfolge der Bedürfnisse tatsächlich so stimmen würde.

 

Hauptsache, der Wirtschaft geht es gut

 

Je genauer die Industrie und die Wirtschaft weiß, was ein Mensch will oder braucht oder meint, zu brauchen, umso genauer kann sie Bedürfnisse stillen oder diese gar neu kreieren, hierin liegt ein mögliches Missbrauchspotential des Modells.

Ebenso kann man das Modell positiv zur Erhöhung der Mitarbeiterzufriedenheit nutzen, um diese ans Unternehmen zu binden, weil sie dort glücklich und zufrieden sind.

 

Und was passiert seit 2 Jahren?

 

Bis auf Nudeln, Hefe und Klopapier hatten wir keinen wirklichen Mangel und man kann auch sehr gut ohne Nudeln und Hefe satt werden. Hier möchte ich also auch keinen Mangel herbeireden, den es nicht gab.

Bei der Schlafqualität sieht es eventuell schon etwas anders aus. Die Sorgen um die Zukunft, die Ängste, die Nöte ließen so manchen nicht mehr gut schlafen. Aber von „Qualität“ war ja keine Rede.
Unmittelbar wurde hier also nichts direkt eingeschränkt.

 

Seelische Gesundheit? Körperliche Gesundheit? Arbeit, Wohnung und Familie?

Hier hatten und haben die Maßnahmen massiv Einfluss genommen. Wir wurden mit Panik gefügig gemacht, viele haben dem seelischen Druck nicht standgehalten, viele haben ihren (Neben-)Job verloren. Die Familie durfte man nicht sehen, oder man musste sie die ganze Zeit sehen, weil es verboten war, sich aus dem Weg zu gehen. Die Wohnung, einst willkommener Rückzugsort wurde zum Gefängnis.

 

Planen konnte man gar nichts mehr und was gestern galt, war morgen überholt. Ständig änderten sich die Regeln. Da kamen die selbsternannten Helden für diejenigen gerade recht, die sich die starke und lenkende Hand wünschen. Dieses Bedürfnis wurde teilweise schamlos ausgenutzt.

 

Das Miteinander, der soziale Austausch, Lachen, Scherzen, Tanzen, Sport treiben wurden für „böse“ und „gefährlich“ erklärt.

 

Selbstbestimmung wurde eingeschränkt. Auch säte man den Keim des Dauerzweifels in jeden Menschen. Was, wenn der andere Mensch nur gesund erscheint? Was, wenn er mir gefährlich werden kann? Ein wertvolles Individuum war man nicht mehr, höchstens eine potenzielle Gefahr für sich, für andere, für die Umwelt, für die Gesellschaft, ja – für die ganze Welt.

 

Selbstverwirklichung? Also bitte!

Wir befinden uns in einer Pandemie. Da sind kein Platz und keine Zeit für Selbstverwirklichung. Mit diesem Luxusproblem können wir uns nicht beschäftigen. Etwas mehr Bescheidenheit bitte.

 

Und wenn man dann so komplett gegen die eigenen Werte handeln muss? Tja, ist halt so! Ist die Pandemie! Da können wir nichts dafür.

 

Die Folgen sind offensichtlich. Die Suizidrate nimmt zu, die Kinder werden eingeschränkt, Kommunikation wird hinter Masken versteckt, ebenso wie das Lachen.
Die Politik interessiert sich nicht für die Bedürfnisse der Menschen und schon gar nicht für Pyramiden.

 

Es gibt ein Grundbedürfnis, welches wir noch als Wunsch äußern dürfen: Gesund sein, gesund bleiben.

Allerdings dürfen wir nicht entscheiden, wie wir gesund bleiben möchten, auch das wird vorgeschrieben.

 

Wenn Bedürfnisse der Menschen so mit Füßen getreten werden, so kann man das schon menschenverachtend nennen.

 

Folgt man den Ausführungen Maslows, die zu Beginn des Artikels erwähnt wurden, so sind Grausamkeit, Destruktivität, Wut, Zorn, Enttäuschung, Sadismus nur die Reaktionen auf die fortwährende Enttäuschung, die wir nun seit fast 2 Jahren mitmachen.

 

Diese negativen Charaktereigenschaften trägt meines Erachtens nach jeder Mensch in sich. Wenn man zunehmend in die Ecke gedrängt wird, wenn die Bedürfnisse zunehmen nicht mehr befriedigt werden können, dann werde aus stillen und friedlichen Bürgern (m, w, d), Aktivisten. Solange ein Bedürfnis nicht befriedigt ist, wird es uns zum Handeln zwingen.

 

Jetzt noch zu glauben, dass die zunehmenden Proteste der Gesellschaft „einfach aufhören“, weil die Politik mit den Protesten nicht einverstanden ist, zeugt von mangelndem Realitätssinn.

 

Gebt den Bürgern, was den Bürgern zusteht. Es wird Zeit.

 

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