Vom Zug überrollt
Am Dienstag, den 25.05.2021 war es dann so weit. Nach fast 7 Monaten durften wir die Türen zu unserem Studio wieder aufsperren. Die wöchentliche Putzroutine gehörte in den letzten Monaten zu den Alltagsaktivitäten, an die ich mich stur geklammert hatte. Der große Frühjahrsputz entfiel insofern. Vielleicht wäre es besser gewesen, alles noch einmal vorher auf Hochglanz polieren zu müssen, denn das hätte dazu beigetragen, den sich ins Unermessliche steigernden Adrenalinspiegel etwas niedriger zu halten. Wie sehr ich mich auf Menschen in live und in echt und in Farbe und mit direkt zu beobachtender Rückmeldung freute, merkte ich erst, als ich auf dem Weg ins Studio das Radio laut aufdrehte und vergnügt in den höchsten Tönen (falsch) sang. Das hatte ich monatelang nicht mehr gemacht. Ein beseeltes Dauergrinsen begleitete mich. Und dann war er da, der erste Abend mit Live-Kursen nach Monaten.
Aufregung pur
Obwohl klar war, dass im Studio nichts weiter vorzubereiten war, ging ich alles am Vortag und im Verlauf des Dienstags 100-mal durch. Den Lehrplan anschreiben, die Desinfektionsmittelspender checken, einen neuen Aushang für die Tür entwerfen, die Webseite aktualisieren, die teilnehmenden Personen informieren, das Hygienekonzept vom letzten Jahr ergänzen und erneuern, sich selbst testen. Und wenn dann alles abgeschlossen ist, am besten von vorne anfangen. Die Liste nicht vergessen für die Kontaktnachverfolgung und für die Bestätigung, dass die TN getestet, geimpft oder genesen sind. Für die teilnehmenden Personen entwarf ich Willkommenskärtchen. Und als dann die erste Teilnehmerin das Studio betrat, da hätte ich sie am liebsten umarmt. Mit großen freudigen Augen nahmen wir uns gegenseitig wieder in Empfang, das Lachen versteckt hinter der FFP2 Maske.
Fast wie zur Studioeröffnung bekam ich sogar Geschenke.
Gedanken im Vorfeld
Komme ich überhaupt noch mit Menschen zurecht? Ich bin ja von Haus aus kein einfacher Mensch: Zickig, übergenau. Manche meinen auch herrschsüchtig und arrogant. Und jetzt hatte ich für 7 Monate das Studio für mich ganz allein. Was ist, wenn ich mich so sehr daran gewöhnt habe, alles für mich zu haben, dass ich mich gar nicht mehr über die Menschen freue? Was ist, wenn ich so unentspannt bin, dass ich allen die Freude raube, statt sie ihnen zu geben?
Hybrid-Kurse
Die Anspannung war groß. Auch weil ich es mir fest vorgenommen habe und daran festhalte, die Kurse hybrid weiterlaufen zu lassen. Meine lieben Online-Teilnehmer müssen sich (wieder – einige sind schon seit dem ersten Lockdown online bei uns) auf eine neue Perspektive der Kamera einstellen, denn dort, wo während des letzten halben Jahres die Kamera stand, sind nun Menschen. Und ich hatte versprochen, die Kurzmitschnitte der Kursinhalte ebenfalls beibehalten zu wollen. Also musste auch hier eine neue Perspektive her. Mein Wunsch ist es, aus allen teilnehmenden Personen eine Gruppe mit einem Gefühl der Zugehörigkeit zu schaffen. So dass sich weder die Online-Teilnehmer wie Zaungäste vorkommen noch die Live-Teilnehmer das Gefühl haben, ich würde sie vernachlässigen. Auch hier muss ich mich erst einmal (wieder) daran gewöhnen.
Die Technik
Und wie es denn auch nicht anders zu erwarten war, streikte die Internetverbindung. Genau an diesem Tag. Hin und her und her und hin. Kurzfristig einfach das Handy nehmen, komischerweise funktionierte es hier. Dann das Tablet wieder neu starten und alles auf Anfang. Gut. Beim zweiten Anlauf klappte es.
Die Perspektive und das Licht
Und – man mag es kaum für möglich halten in diesem verregneten Frühling – es schien die Sonne. Nach Monaten wurden die Rollos wieder hochgezogen. Auch, um Heizkosten zu sparen, war es dauerschummrig im Studio gewesen. Das führte dazu, dass die Sonne genau dorthin strahlte, wo die Online-Teilnehmer den Trainer sehen sollten. Also Vorhänge wieder zu. Dann war es zu dunkel. Warum? Weil ich eben doch etwas vergessen hatte. Vor lauter Aufregung hatte ich das Hauptlicht ausgelassen.
Der Stand der Dinge
Das
oben erwähnte Gemeinschaftsgefühl mit Wohlfühlfaktor trotz körperlicher
Anstrengung muss sich auch im Kurslevel erst wieder finden. Viele Personen
haben sich während der letzten Monate online fit gehalten, andere hatten nicht
die Möglichkeit dazu. 7 Monate ohne Sport. Da ist es fast klar, dass man nicht
einfach dort weitermachen kann, wo man aufgehört hat.
Für mich war das Unterrichten weniger anstrengend, weil ich mir nicht mehr vorstellen
musste, wo die Herausforderungen für die TN liegen konnten, sondern es sehen
konnte. Hinzu kommt, dass ich in den letzten Monaten durch beständiges erneutes
Vorzeigen und Wiederholen in hunderten von unterschiedlichen Varianten immer
versucht hatte, den Online-TN das beste Ergebnis zu liefern.
Plötzlich wieder einfach zugucken zu können, ohne permanent zu moderieren und selbst zu turnen, fühlt sich als Trainer an, als ob man faul wäre.
Für die TN war es trotzdem, oder gerade deswegen eine enorme Herausforderung. Die Augen des Trainers beständig wachsam. Korrekturen, Hinweise, Kommandos – all das war (leichter) auszublenden, wenn man nur online mitgemacht hatte. Oder aber die Teilnehmer hatten „Ferien“ vom anstrengenden Drill-Sergeant.
Anstrengung pur – für den Kopf
Der Körper musste nicht ganz so viel leisten wie bisher. Gefühlt. Der Kopf umso mehr. Hin- und hergerissen zwischen Freude und dem Gefühl, endlich wieder das tun zu können, was man sich in der ehemaligen Berufsfreiheit, die mal als Grundrecht galt, selbst ausgewählt hatte und der lauernden Angst. Was, wenn es jetzt doch gefährlich ist? Was, wenn wir vielleicht die Abstände unterschreiten? Was, wenn ein Test falsch negativ gewesen sein sollte? Was, wenn ich durch mein Angebot der kontaktlosen Kurse mit viel Abstand doch verantwortungslos bin?
Vom Zug überrollt
Am Morgen danach fühlte ich mich verkatert, wie vom Zug überrollt. Müde und erschöpft und kaputt. Außerdem traue ich mich nicht, mir meine Freude über die Wiedereröffnung zuzugestehen, sie geschweige denn zu genießen. Wenn morgen die Zahlen wieder steigen? Wenn wir wieder über 100 kommen. Wenn wir wieder zumachen müssen. Wie oft werden die lieben teilnehmenden Personen das mitmachen? Wie oft habe ich selbst die Kraft dazu.
Aus dem Schneider?
Die Kurse, die Ende Oktober 2020 pausieren mussten, werden jetzt fortgeführt. Fast wie bei Dornröschen. Der ganze Hofstaat versinkt in Schlaf. Und als alle wieder erwacht sind, macht man genau dort weiter, wo man aufgehört hatte. Das bedeutet aber auch, dass ich mir auch monetär noch lange kein Aufatmen gönnen kann. Wenn die jetzt laufenden Kurse abgeschlossen sind, wer bucht dann weiter? Lassen es die Zahlen dann zu?
Die Angst hat sich schon richtig schön festgesetzt. Wie Fußpilz. Lästig, störend, mahnend, immer da und einschränkend. Es wird dauern, bis mein Kopf entspannt mit Menschen umgehen wird können.
Ich hoffe dennoch, dass ich den teilnehmenden Personen, die so bereitwillig wiederkommen, eine Wohlfühloase bieten kann.
Ich hoffe, dass ich meinem Beruf weiter nachgehen werde können. Ich hoffe auch, dass es uns möglich sein wird, den Lebensunterhalt damit weiter zu generieren. Und ich wünsche mir, dass ich meinen lieben Teilnehmern etwas bieten kann, was sie als wertvoll erachten.
Glückselig
Bereits am zweiten Tag war ich etwas entspannter. Dieses Gefühl der wohligen Wärme, welches entsteht, wenn Menschen da sind, wenn Menschen den Raum mit Energie füllen, wenn man das Gefühl hat, man kann jemandem etwas geben, was er liebt und was ihm Spaß macht. Das muss wohl Glück und Seligkeit sein. Vielleicht traue ich mich auch bald, dieses Gefühl zu genießen?
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