Strohhalm, seidener Faden und Nebel
Kurz vor dem Gipfel ist Nebel. Der Weg bis hierher war lang und beschwerlich. Er hat viel Mühen und Anstrengungen gekostet. Man ist müde, ausgelaugt und kaputt. Man kann nicht mehr. Man sieht das Ziel nicht. Vor einem ist nur eine trübe, wabernde Masse. Und der Weg wird nicht leichter. Jeder Schritt raubt einem den Atem. Jede Bewegung schnürt einem die Kehle zu. Unten wären die Freunde. Unten wäre es wärmer. Daheim wäre es weniger beschwerlich. Warum also überhaupt noch weitergehen? Wohin überhaupt? Ist doch sowieso nichts zu sehen.
Jeder Tag am seidenen Faden
Aufstehen. „Guten Morgen“ wünschen. Nachrichten checken. Tagesplan aufstellen. Kaffee trinken. Büroarbeit. Texten. Kämpfen. Existenzängste bekämpfen. Überlegen, wie es weitergehen kann. Mit uns. Mit dem Sportstudio. Mit unserem Familienunternehmen. Nachrichten schauen. Pläne aufstellen. Pläne verwerfen. Weinen. Duschen. Schminken.
Schminken ist gut, das hält mich vom Weinen ab. Rein ökonomische Betrachtungsweise. Ich müsste ja sonst von vorne anfangen.
Abends Online-Kurse. Menschen sehen – wenn auch nur am Bildschirm. Aber wir lachen miteinander. Wir freuen uns aufeinander. Das ist schön. Ich freue mich jeden Tag darauf, selbst wenn ich manchmal nicht weiß, wie ich die Kraft dafür aufbringen soll. Irgendwie tut der ganze Körper weh.
Ausgelaugt vom „Nichtstun“
Aber damit bin ich nicht allein. Viele Menschen um mich herum bemerken - ja, sie bemerken, denn sie klagen nicht - dass die Wehwehchen zu richtigem „Aua“ werden.
Die Konzentration nimmt ab, die Phlegmatik nimmt zu. Der Kopf steht permanent unter Spannung, der Adrenalinspiegel ist auf dauerhoch eingestellt. Abbaumöglichkeiten gibt es kaum bis keine. Wir schlafen alle nicht mehr gut. Und manchmal stolpern wir, straucheln, fallen hin. Da ist unser Körper irgendwie dem Geist voraus. Vielleicht mahnt er uns ja auch nur, weil er nicht versteht, wie wir mit ihm umgehen? Vielleicht wird der Körper zum trotzigen Kleinkind, weil wir keine Zeit mehr für ihn haben und dauernd der Kopf im Vordergrund steht?
Das Licht am Ende des Tunnels ist eine Kerze, langsam brennt sie runter
Ich kneife die Augen zusammen und fixiere das kleine Licht am Ende des Tunnels. Ich weiß nicht, ob ich es mir einbilde. Es ist so klein. Ich habe Angst, dass es nur eine Kerze ist. Vielleicht ein Grablicht? Aber auch das erlischt irgendwann.
Den Strohhalm loslassen
Manchmal habe ich mir schon überlegt, die Kurse am Abend abzusagen. Ich bin so müde. Einfach im Bett bleiben.
Kommt überhaupt nicht in Frage! Diese liebe Stimme war bisher immer lauter. Es gibt Menschen, die ich sehen kann und will. Und diese Menschen wollen etwas für sich tun und haben ein Recht darauf. Sie mögen die Kurse und die Kurse tun ihnen gut. Du hast versprochen für sie da zu sein, also tue es auch. Du bist Dienstleister. Punkt. Außerdem tut es Dir doch auch gut. Was willst Du denn, wenn Du dir mit Vorsatz den letzten Rest dessen, was dich zwar Kraft kostet aber auch motiviert, selbst nimmst?
Außerdem ist da ein tiefes Gefühl und eine bleierne Angst in mir. Diese Gefühle sagen mir, dass ich ins offene Meer hinaustreibe, wenn ich einmal den Strohhalm loslasse. Und dann komme ich nicht mehr zurück.
Fahnen tragen
Und so geht jeder Tag vorbei. Und morgen ist ein neuer Tag und ich kämpfe weiter.
Mein Papa hat immer gesagt, wenn Du vorausgehst und die Fahne trägst, dann trage sie, weil Du sie tragen willst. Nicht weil dich jemand schickt, denn wenn Du dich umdrehst, ist keiner mehr da. Insofern freue ich mich über jede Person, die hinter mir steht (ob ich mich nun umdrehe oder nicht).
Um der Liebe willen
Aber ich trage die Fahne auch, weil ich meinen Beruf innig liebe und im Moment leide. Und deswegen kämpfe ich weiter, für mich, aber vielleicht auch ein bisschen für uns alle.
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