Machtrausch
Meine berufliche Laufbahn begann ich im Jahr 2000 als Seminarleitung für schwererziehbare Jugendliche. Die jungen Menschen waren zwischen 15 und 19 Jahre alt. Für sie war ich mit meinen 25 „alt“ und generell „doof“, weil ich eine Lehrperson war. Ich habe das hingenommen, die jungen Leute respektiert. Binnen kürzester Zeit konnte ich sie für mich gewinnen und wir konnten miteinander arbeiten. So sehr sie mich am Anfang ob meiner Funktion abgelehnt hatten, so sehr lagen sie mir dann zu Füßen. Das ging soweit, dass eine junge Frau aus der Psychiatrie ausbrach, um am Unterricht teilnehmen zu können. Sie verkündete dies stolz zu Unterrichtsbeginn. Ich war geschmeichelt und geschockt zugleich und teilte der Klasse mit, dass ich dies „melden“ müsse, dass ich dies nicht einfach hinnehmen könne. Natürlich habe ich damit das Vertrauen der „Gefolgschaft“ verloren, aber ich weiß bis heute nicht, wie ich mich hätte anders verhalten sollen.
Menschen für sich gewinnen
Wenn man mit Menschen zusammenarbeitet, dann muss man diese für sich gewinnen. Man gewinnt sie für die Sache, aber man gewinnt sie auch immer mit für die eigene Person. Gelingt einem dies, so wird das Ego gestreichelt und das tut gut, keine Frage. Die erste Herausforderung ist es also, immer im Auge zu behalten, dass man die Menschen für die Sache gewonnen hat, nicht in erster Linie für sich. Ist die Sache gut, dann passt alles. Aber es bleibt wichtig, sich immer wieder zu fragen, ob die Sache noch gut ist.
Macht bekommen
Gewinnt man Menschen für sich, gewinnt man auch ihr Vertrauen. Vertrauen ist ein Geschenk, kein Lohn. Vertrauen darf man nie ausnutzen, selbst wenn vieles damit leichter vonstatten gehen würde. Die kleine Notlüge hier, die verschwiegene Wahrheit dort, das Verdrehen von Tatsachen an anderer Stelle. Vieles wäre nicht so anstrengend, aber es wäre falsch.
Führungspositionen ausnutzen
Das gewonnene Vertrauen immer wieder auf ein festes Fundament der Glaubwürdigkeit zu stellen, ist mitunter anstrengend. Vieles könnte man einfach „anordnen“, ohne es erklären zu müssen. Allerdings ist es auch eine Frage des Respekts, das eigene Vorgehen erklären zu können und zu wollen. Menschen sind nicht Gefolgsleute, sie sind wertvolle Individuen mit eigenen Gedanken und eigenen Überzeugungen. Es ist eine Frage der Ehre und Loyalität, ihnen auf Augenhöhe zu begegnen, ganz gleich, welche Position man per Definition innehat.
„Ich habe die Macht vieles zu tun, aber es frommt
nicht alles.“ 1. Korinther 10,23
Macht macht vieles leichter
Hat man einmal erkannt, dass man eine gewisse Macht innehat, so kann dies verhängnisvoll werden. Warum erklären und Verständnis generieren wollen, wenn man einfach anordnen kann? Warum immer wieder das Wohl der anderen im Kopf behalten, wenn diese einem sowieso blind vertrauen? Warum sich die Mühe machen, alles zu erklären und die Wahrscheinlichkeit des eigenen Fehlverhaltens im Kopf zu behalten, wenn es die Gefolgsleute nicht tun? Sie vertrauen und ich kann anordnen. Das geht leicht, das ist nicht anstrengend und eventuell bekommt man sogar noch Applaus dafür, ganz ohne die Notwendigkeit, Argumente für das eigene Tun liefern zu müssen. Genial.
Im Rausch der Macht
Sind
diese Hemmschwellen erst einmal überwunden, dann setzt eine gefährliche
Eigendynamik ein. Macht und Gewalt (ob nun physisch oder psychisch) sind eng verwandt.
Der Neuropsychologe Thomas Elbert sagt, der Mensch besäße eine grundsätzliche
Veranlagung zur Aggressivität und zur Lust an Gewalt. Elbert forscht in Konstanz
zu den Ursprüngen der menschlichen Gewaltbereitschaft.
Ich denke, nur wer sich dessen bewusst ist und diese unschöne Eigenschaft zumindest als Wahrscheinlichkeit erkennt, kann adäquat damit umgehen. Doch schön klingt das nicht und unserem positiven Selbstbild ist diese Erkenntnis auch nicht zuträglich. Also wischen wir sie nur allzu gern vom Tisch, was fatale Folgen haben kann.
Zivilisation im Ausnahmezustand
Besondere Umstände erfordern besonderes Vorgehen. Sicherlich. Doch manchmal wird mit den besonderen Umständen, die Aufgabe sozialer Verhaltensweisen legitimiert. Es muss schnell gehen. Ich kann es anordnen.
Dass sich eine Zivilisation im Ausnahmezustand befindet, ist in Kriegszeiten leicht zu erkennen. Wenn allerdings kein Krieg herrscht, so wie wir ihn uns vorstellen, wenn die Menschen sich nicht gegenseitig die Köpfe einschlagen, weil Feindbilder geprägt wurden, dann scheint die Zivilisation ja noch zu funktionieren.
Feindbilder werden heute auch über Medien, soziale Medien und Framing geprägt. Zivilisiert ist der Ton oftmals nicht mehr. Lager der Guten und der Bösen entwickeln sich und jeder meint, den anderen bekämpfen zu müssen und zu können. Und oben stehen Menschen, die die Macht haben, anzuordnen.
Die
paar unbequemen Gefolgsleute, die immer noch nach Legitimationen und Argumenten,
Beweisen und Belegen fragen, die kriegt man mit Angst vor Repressalien und mit
Anordnungen auch noch klein.
(Link: https://www.zeit.de/politik/ausland/2012-06/syrien-kinder-gewalt-psychologie/komplettansicht)
Weil ich es kann
Und so entsteht in der Beschleunigung der Machtrausch. Ähnlich eines Blutrausches, in welchem besonders wilde und hemmungslose Gewalttaten verübt werden können, spielt und nutzt man die eigene Position immer hemmungsloser aus.
Elbert beschreibt in Bezug auf Bürgerkriege die Auflösung von Fronten. Langfristige Ziele mit einer guten Strategie, einer nachvollziehbaren Ideologie und politischen Zielen, denen man sich zu dienen bereiterklärt hat, werden unwichtig. Es geht um das Hochgefühl, etwas einfach machen zu können, stark zu sein. Sind zudem keine umgehenden Konsequenzen zu fürchten, wird man für sein machtberauschtes Handeln nicht sofort zur Verantwortung gezogen, wird es immer leichter, die Schwellen zu überschreiten. Man nutzt die Macht aus, nicht um ein Ziel zu erreichen, sondern einfach nur, weil man es kann.
Der Versuchung widerstehen
Die Ausübung von Macht, das Gefühl, etwas bewirken zu können und dafür bejubelt zu werden, ist ein Rausch. Die Gefolgschaft vertraut blind und man erhält ohne große Anstrengung Zuspruch. Man fühlt sich einer Gemeinschaft zugehörig, die immer größer wird. Zunächst konnte man die Familie überzeugen, dann Freunde. Jetzt hört einem schon die Nachbarschaft zu, danach ein ganzes Bundesland und vielleicht bald der ganze Staat. Warum sollte man das nicht nutzen oder ausnutzen? Es ist der (wohlverdiente) Lohn für das eigene engagierte Handeln. Es ist doch nur das Ergebnis harter Arbeit. Es ist richtig.
Was man auf Spiel setzt
Ich möchte ehrlich sein: Es tat mir damals in der Seele weh, meine „Klasse“ und deren Vertrauen durch den „Verrat“ zu verlieren. Weil ich die junge Dame „meldete“, weil ich mitteilte, dass das vermisste Mädchen sich gerade bei mir im Unterricht befinden würde, habe ich die Gefolgschaft der Klasse verloren. Ich musste von vorne anfangen, die Gemeinschaft war dahin. Ich habe das Vertrauen verspielt.
Das
ist kein schönes Gefühl und im Moment fällt man tief. Vorher war es schöner und
leichter.
Durch mein – in den Augen meiner Gefolgschaft – falsches und verräterisches
Verhalten, habe ich meinen machtvollen Platz in der Gemeinschaft verloren. Ich
habe ihn nicht nur aufs Spiel gesetzt, ich habe ihn aufgegeben.
Aber
was wäre gewesen, wenn ich das nicht getan hätte? Ich weiß es nicht.
Ich habe keinen Eid geschworen, ich habe mich nur mir und meinem Gewissen verpflichtet.
Und dieses Gewissen kann mitunter sehr lästig sein. Solange das Gewissen aber
nicht tot ist, wird es sich immer melden, früher oder später. Ich glaube aber
auch, dass man seine Überzeugungen nicht einfach zugunsten eines Machtrausches
über Bord werfen darf, gerade wenn und weil man anderen Menschen verpflichtet
ist.
“So many times, it happens too fast
You change your passion for glory
Don’t lose your grip on the dreams
of the past
You must fight just to keep them
alive.”
Eye of the Tiger - by Frankie Sullivan and Jim
Peterik, 1982
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