Berührungsempfindlich
Ich liebe dicke gestrickte Pullover. Am liebsten
in Norwegermustern. Und Angora-Pullis und Mohair. Ich kann sie nicht tragen.
Selbst wenn ich ein Langarmshirt drunter trage, so kratzt es und spätestens
nach 15 Minuten werde ich so nervös und erlebe einen solchen Juckreiz, dass der
schönste Pullover zum Folterinstrument wird. Ich vertrage einfach keine Schurwolle,
kein Mohair, keine Angora-Fasern. Und dass, obwohl es natürliche Fasern sind.
So wie zufällige und ungezwungene Berührungen unter Menschen etwas ganz
Natürliches sind, oder vielmehr waren.
Sehr angenehm
Abstand beim Einkaufen. Niemand, der einem den Einkaufswagen in die Hacken rammt. Menschen, die von Deo noch nie etwas gehört haben und mir nun vom Leib bleiben. Wundervoll. Kein heißer, feuchter Atem der Person, die hinter mir steht in meinem Nacken. Nicht das Schlechteste. Es gibt ein paar Veränderungen, bei denen ich nicht traurig wäre, wenn man sie „hinterher“ – wann auch immer das sein wird – beibehalten würde.
Wenn sich die Frage nach Nähe nicht stellt
Hinterher. Ein Wort voller Ungewissheit, Sehnen und Hoffnung. Ich ertappe mich oft dabei, dass ich von der Zeit spreche, wenn alles wieder normal ist. Nur um dann mit resigniertem Erstaunen festzustellen, dass es nicht mehr „wie früher“ werden wird und auch, dass die „neue“ Normalität schon längst Einzug gehalten hat. Die Frage nach Nähe stellt sich im Moment nicht. Man darf ja gar nicht. Und ich gebe zu, dass ich in den vergangenen 10 Monaten tatsächlich 2- oder 3-mal etwas Verbotenes getan habe. Vielleicht bin ich dabei sogar straffällig geworden. Habe ich Regeln missachtet? Ja. Ich habe 2- oder 3-mal einen Menschen, der nicht zu meiner Familie gehört, in den Arm genommen. In den meisten Fällen musste ich aber nicht entscheiden oder mich mit schlechtem Gewissen über bestehende Regeln hinwegsetzen, da sich die Frage nach Nähe überhaupt nicht stellt. Ich sehe außer meiner Familie, bis auf ganz wenige Ausnahmen, niemanden mehr.
Von Kindern gezwungen
Eine dieser Ausnahmen war eine Adventseinladung bei Freunden. Die Familie hat ein kleines Kind. Selbst hier waren ein anfängliches Zögern und Zaudern seitens des Kindes festzustellen. Aber nach einer halben Stunde, war das Eis gebrochen. Da wurde einfach nur Nähe gesucht. Mein Kopf in den Händen dieses Kindes, welches mich unverwandt ansah. Der bevorzugte Sitzplatz dieses Kindes, welches seit Wochen auch niemanden mehr sieht außer der eigenen Familie, auf meinem Schoß. So voller Energie, Neugier und Freude. Mir war mulmig. Nein, nicht weil ich Angst vor den Menschen habe, sondern weil ich mich als beständig tickende Zeitbombe, als potentielle Gefahr und Bedrohung für andere Menschen sehe. Was, wenn ich anderen Menschen mit meiner Nähe schade? Was, wenn ich als womöglich symptomloser Überträger, diesen Menschen krank mache? Ich brachte es aber bei diesem Kind einfach nicht übers Herz, es abzuweisen, es hätte mich innerlich zerbrochen. (Weder ich noch das Kind sind hinterher krank geworden oder tot umgefallen).
Verweigerungshaltung gegenüber anderen Menschen
Wenn die Menschen ihre Bedürfnisse nicht ganz so unverblümt ausdrücken können und nicht mehr ganz so klein sind wie Kinder, dann kann ich mich sehr gut verweigern. Und wenn ich mich verweigere, dann kann ich dem schlechten Gefühl, jemandem eventuell mit meiner Berührung und meiner Nähe zu schaden, sehr gut entgehen. Wohlfühlen sieht allerdings anders aus. Eine Freundin der Familie, die wir seit 17 Jahren kennen und die mit meiner Tochter aufgewachsen ist, besuchte meine Tochter anlässlich ihres Geburtstags. Eine Freundin.
Die Mädchen kochten zusammen. Bei der Begrüßung strahlten wir. Auf Abstand. Die ganze Körperhaltung, die Gestik und Mimik unseres Besuchs zeigten, dass gegen eine herzliche Umarmung - so wie früher eben – auch nichts einzuwenden wäre. Meine Vernunft berechnete die Wahrscheinlichkeit und kam zu dem Schluss, dass hier wohl kaum eine Gefahr bestehen würde. Aber ich konnte nicht. Ich konnte keine Umarmung zulassen. Innerlich war ich absolut zerrissen. Ich war nicht „happy“ mit meinem Verhalten, aber ich wäre auch nicht „happy“ gewesen, wenn ich die Umarmung zugelassen hätte.
Touch-Junkie oder Berührungs-Einsiedler
Ich werde einen „normalen“ Umgang mit Menschen „hinterher“ – wann auch immer das sein wird – erst wieder lernen müssen.
Entweder werde ich zu einer dieser „Touchies“ (Personen, die einen immer irgendwo wie zufällig anfassen müssen, auch wenn es gar nicht notwendig wäre und die kein Gespräch ohne Körperkontakt führen können. Ich kann so etwas eigentlich nicht leiden), oder ich kann keine körperliche Nähe zu Menschen mehr ertragen.
Verseuchtes Selbstbild
Dabei sind es nicht die „Anderen“, die mir Angst einjagen, sondern die Möglichkeit, dass ich mit meiner Nähe diesen Menschen eventuell schaden könnte. Meine Existenz ist vielleicht eine potentielle Bedrohung für andere, auch wenn ich das gar nicht möchte.
Niemand sehenden Auges abstürzen lassen
Und
wenn ich wieder Personen in meinem Studio empfangen werde dürfen – wann
auch immer das sein wird – werde ich, mit Einverständnis der Teilnehmer
und Teilnehmerinnen, diese sichern, wenn wir gefährliche
Akrobatik-Figuren üben. Ich werde niemanden sehenden Auges abstürzen
lassen.
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