Anstand und Seelenpflege

 


Anstand gilt als ein selbstverständlicher Maßstab an die eigene Ethik, Moral und das Verhalten. Da jeder Mensch anders ist, können natürlich auch die Maßstäbe sehr unterschiedlich sein. Neben Umgangsformen, die man meist als Kind gelehrt bekommt, ist er das Fundament des Umgangs mit anderen Personen. So lange die anderen Personen keine Herausforderung sind, man wenig bis gar nichts mit ihnen zu tun hat und diese auch keine Anforderungen an den eigenen Anstandsmaßstab stellen, merkt man unter Umständen gar nicht, wie unterschiedlich der Anstandsstandard sein kann. Im Netz merkt man es (zur Zeit) sehr schnell.

 

Als die Seife ausverkauft war

Wir leben in einer Überflussgesellschaft. Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass es zu Versorgungsengpässen mit Seife und Klopapier kommen könnte. Aber das haben wir erlebt. Letztes Jahr. Dabei habe ich nicht verstanden, warum man auf einmal „mehr“ davon brauchte. Händewaschen etc. gehörten schon immer zum guten Ton. Man behielt also bei, was man gewohnt war, es war kein gesteigerter Bedarf an Hygieneartikeln da.

Natürlich kann das immer zwei Gründe haben. Entweder war man vorher schon ein kleines Schweinchen und behielt das einfach bei, oder aber Körperpflege und Hygiene waren Standard.

 

Grundsätzlich oder nur, wenn es nötig ist?

Dann kam der Lockdown und die Masken. Die Kosmetikindustrie vermerkte einen Absatzeinbruch bei Lippenstiften, dafür aber eine Umsatzsteigerung bei Utensilien, die man für das Augen Make-Up brauchte.

Bezeichnend! Es ist also nicht unbedingt die Pflege und das gepflegte Gefühl der Antreiber für den Kauf dieser Dinge, sondern, ob es jemand anderes sieht, bemerkt, reagiert.

So ähnlich ist das auch mit dem Anstand und der Höflichkeit. Macht man es, weil es untrennbar mit dem Charakter verbunden ist, oder weil es eben so verlangt wird? Bitte. Danke. Augenkontakt. Glückwünsche. Beleidsbekundungen. Sich sauber anziehen. Täglich Duschen. Zähne putzen. Unterwäsche wechseln. Das eine hat mit dem anderen doch gar nichts zu tun. Für mich schon. Ich mache das, weil ich es persönlich für wichtig empfinde.

 

Contenance und Konsequenz

Selbstbeherrschung. Nicht aus der Rolle fallen. Die Fassung wahren. Sich zurückhalten.

Macht nicht immer Spaß, kann durchaus auch mit einer gewissen Art von Reserviertheit und Arroganz übersetzt werden oder den Mangel an Temperament vermuten lassen. Dabei verhindert Contenance in vielen Situationen einfach auch eine Eskalation derselben. Eine Eskalation wird meist dann vermieden, wenn man selbst und in direkter Weise die Konsequenzen spüren würde. Man feuert eine Meinungsverschiedenheit einfach nicht so leicht an, wenn man fürchten muss, dass der andere „gewalttätig“ werden könnte. Man gießt vielleicht nur dann Öl ins Feuer einer Diskussion, wenn man weiß, dass man im Zweifel schnell abhauen kann.
Oder aber man provoziert eben gar nicht, weil man es nicht für nötig erachtet und weil es nicht zum guten Ton gehört. Punkt.
Im Einzelfall kann man nicht sagen, welche Beweggründe hinter dem Verhalten einer einzelnen Person stehen.

 

Vorurteile und Urteile

Zwei Sätze voller unverhohlen dargestellter Vorurteile, die mit einem ungnädigen und erbarmungslosen Urteil von der Gegenpartei quittiert werden. Part 1 der sich austauschenden Personen reagiert prompt mit einer Beleidigung, die von Part 2 erwidert wird. Das zieht sich im Übrigen durch alle Gesellschaftskreise (gefühlt).

Im Netz!

Netiquette ist ein schönes Wort, doch so wie Körperpflege im Lockdown zur Nebensächlichkeit zu verkommen schien, so scheint sie auch im virtuellen Raum eine immer kleinere Rolle zu spielen.

Da wird massiv beleidigt und gegenbeleidigt, wenn es um Kunstgeschmack geht. Ich dachte, über Geschmack kann man nicht streiten. „Katz‘ mag Mäus, I mogs ned.“
Da wird einem unterstellt, man würde sich überhöhen und als moralisch besser sehen, wenn man eine Frage stellt. Es ging um Gottesdienstbesuche. Grob zusammengefasst: Gottesdienste sind, allerdings natürlich nur bei Freikirchen, die sich ja generell nicht an die Regeln halten würden, Infektionstreiber. Gottesdienste sind unnötig. Das ist aber eine Lebenseinstellung, die von Person zu Person unterschiedlich ist. Hier habe ich (auch mir, denn wir besuchen die angebotenen Gottesdienste unter AHA-Regeln) die Frage gestellt, ob es nicht vielleicht eher ein Akt christlicher Nächstenliebe wäre, wenn man – obwohl man es dürfe – aus Solidarität darauf verzichtet? Von einer Pfarrerin kam der Vorwurf, dass ich mich implizit moralisch selbst erhöhen und als besserer Mensch darstellen würde. Ich bat sie, diese Schuhe für sich zu behalten, ich würde sie mir nicht anziehen.
Gewundert habe ich mich dennoch.

 

Leben und leben lassen

Ist es nicht auch eine Frage des Anstands, den Kunstgeschmack einer anderen Person einfach stehenlassen zu können, ohne diese Person sofort als dumm zu betiteln? Ist es nicht eine Frage von Contenance, sich über etwas zu wundern, ohne es sofort aussprechen zu müssen? Sollte sich meine Lebenseinstellung (Christlichkeit) nicht auch dadurch zeigen, dass ich nicht über andere Personen richte?
Warum denn. Im Netz muss ich doch keine direkten Konsequenzen fürchten. Im Netz geht alles. Das finde ich nicht schön.
Und ja, dass ich hier nicht schreibe, wie ich es wirklich finde, was ich darüber denke, auch das hat etwas mit Contenance zu tun (und nicht nur damit, dass Google sonst den Eintrag wieder sperrt, wenn ich mich mal wieder ungehobelt ausdrücke).

 

Wäre man im „real life“ auch so?

Ich hoffe, dass wir alle unser gepflegtes Auftreten wieder hervorkramen, wenn wir uns wieder mehr begegnen können. Außerhalb des Netzes. Von Angesicht zu Angesicht. Hoffentlich putzen wir uns dann wieder die Zähne, waschen uns weiterhin die Hände und haben nicht alle Höflichkeitsregeln vergessen.

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